Am 1. Adventssonntag beginnt ein neues Lesejahr

Am 1. Adventssonntag beginnt ein neues Lesejahr

Gepostet von am Nov 7, 2022 in Allgemein | Keine Kommentare

 

Die Leseordnung der katholischen Kirche legt die biblischen Textstellen fest, die im Gottesdienst der einzelnen Sonn- oder Werktage gelesen werden. Auch das Judentum sowie die meisten anderen christlichen Konfessionen kennen Leseordnungen. Wichtiger als in früheren Ordnungen ist für die Leseordnung nach dem Vorbild des Judentums das Prinzip der Bahnlesung.

Jedes Jahr ist einem der drei synoptischen Evangelisten gewidmet. Im nun beginnenden Lesejahr A werden vorwiegend Evangelien des Evangelisten Matthäus gelesen. Die wichtigsten Teile des Johannesevangeliums werden in den „geprägten Zeiten“ (Advent, Weihnachtszeit, Fastenzeit und Osterzeit) des Kirchenjahres vorgetragen.

Bedingungslos liebendes Tun

Matthäus eröffnet den kirchlichen Lesezyklus. Seine Vorrangstellung im Neuen Testament verdankt das zwischen 80 und 90 n. Chr. entstandene Evangelium nicht sei­nem Alter, sondern dem Umstand, dass es in der Alten Kirche am meisten gelesen und von den immer zahlreicheren Heiden­Christen als Evangelium einer Kirche aus Heiden gedeutet und begrüßt wurde. Von einem an Christus glaubenden jüdischen Autor verfasst, wendet sich das Matthäus-Evangelium jedoch nachdrücklich an eine gemischte Gemeinde aus Juden und Nichtjuden.

Jesus als Sohn Davids und Abrahams

Der römische Krieg verloren, Tempel und Stadt zerstört. Eine jüdische Strömung sucht, gegen mächtige Angleichungstenden­zen an die griechisch-römische Leitkultur, die tradierte Religion im Rückgriff auf die hebräische Sprache und in Konzentration auf Israel zu bewahren. Hellenistisch geprägte Jesus-Anhänger versuchen ihrerseits, ihren jüdischen Glauben zu artikulieren, aber in der Öffnung für Nichtjuden und unter Rückgriff auf die ins Griechische übertragenen oder so verfassten heiligen Schriften Israels. Matthäus müht sich, das schwierige Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden in seiner Gemeinde zu klären. Es geht darum, das Verhältnis zwischen dem Glauben an JHWH als Gott Israels und aller Völker und entsprechend zwischen der Sendung Jesu als Sohn Davids zu Israel, aber auch als Sohn Abrahams zu allen Völkern zu erhellen. Die kritisch-polemischen Töne des Evangeliums, zumal gegen pharisäische Kreise, deren Lehrautorität Matthäus nicht bezweifelt, denen er aber den Abstand zwischen Lehre und Tun vorwirft, waren ursprünglich Teil innerjüdischer Auseinandersetzungen um den rechten Weg; sie sollten nicht antijüdisch verwendet werden.

Schriftgelehrter und Jünger des Himmelreichs

Der Matthäus-Evangelist wurde ca. 50 Jahre nach Abfassung des Evangeliums mit dem Zöllner und Angehörigen des Zwölfer­kreises Matthäus gleichgesetzt (Mt 9,9; 10,3). Der Evangelist, wie seine Gemeinde in der syrischen Großstadt Antiochia zu Hause, war selbst kein Augenzeuge Jesu. Er kennzeichnet sich im 13. Kapitel, Vers 52 selbst als Schriftgelehrten, der „Jünger des Himmelreichs“ wurde und nun einem Hausherrn gleicht, „der aus seinem Vorrat Neues und Altes hervorholt“. Schriftgelehrt meint hier die Fähigkeit, die Schriften nicht nur historisch zu lesen, sondern zu verheutigen.

Quellen und eigene theologische Komposition

Etwa die Hälfte des Stoffes, vor allem Erzählungen, stammt von Markus, etwa ein Viertel aus einer Matthäus und Lukas vorliegenden Redenquelle. Nicht zu vergessen sind die heiligen Schriften Israels! Obwohl Matthäus viele Traditionen einarbeitet, ist sein Evangelium doch eine eigenständige Komposition. Für ihn ist vor allem die Einheit von Jesu Worten und Taten wichtig. Sie soll das Erkennungszeichen derer werden, die sich zu Christus stellen.

Im Lichte biblischer Verheißung

Matthäus arbeitet mit Erfüllungszitaten, in denen Begebenheiten aus dem Leben Jesu im Lichte biblischer Verheißungen leuchten. Auffällig ist die Fülle von Hoheitstiteln. Der Titel „Immanuel“ („Mit-uns-Gott“, Mt 1,23, vgl. Jes 7,14) findet sich nur bei ihm, und er rahmt das Evangelium: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ (Mt 28,20). Jesus ist „der Christus“. Er ist „Sohn Abrahams“ und als Christus (Messias) Heiland und „Sohn Davids“. Jesus ist „Sohn Gottes“ (Mt 16,16). Dies bestätigt sich in seiner Herkunft aus dem Heiligen Geist (Mt 1,18) und in der Geburt von der Jungfrau Maria (Mt 1,25). Jesus wird „Herr“ genannt. Er ist „der Menschensohn“, der von Gott jetzt schon bevollmächtigte Mensch, zugleich die hohe richterliche Gestalt, deren Kommen endzeitlich erwartet wird.

Die Gerechtigkeit tun

Für Matthäus ist Jesus Lehrer der Gerechtigkeit. In Wort und Tat legt er den Willen Gottes aus, der in der Tora geoffenbart ist und durch Jesu Wirken erfüllt wird (Mt 5,17–20). So zeigt sich überwältigend Gottes Zuspruch zum Menschen; er geht dem Anspruch voran und ermöglicht dessen Erfüllung. Mensch­liches Handeln hat Gewicht; das Gericht am Ende der Zeiten schaut auf das bedingungslos liebende Tun. Gottes Liebe und Treue in Jesus entsprechen darum die Jünger und Jüngerinnen, wo immer sie sich für Gottes guten Willen öffnen und ‚die Ge­rechtigkeit tun‘.

Einheit von Juden und Nichtjuden im einen Gottesvolk

Dass der Christus, in dem Gott handelt, zuerst für das Heil Israels, aber auch für das Heil aller Nichtjuden entscheidend ist, hat für Konfliktstoff gesorgt. Konservative Gemeindemitglieder konnten sich durch diese Öffnung der göttlichen Heilsverhei­ßung bedroht fühlen. Doch gerade dies, die Einheit von Juden und Nichtjuden im einen Gottesvolk, ist Anliegen des Matthäus. JHWH handelt in der Geschichte Israels und der Völker, und in Jesus und seiner Lebensgeschichte bis in Tod und Auferweckung. Für Matthäus bleibt Israel erwählt und zuerst berufen. Doch diese biblische Tradition wird um ebenfalls biblische Traditionen ergänzt, die um die Gestalt Abrahams, des glaubenden Nichtjuden, kreisen, die Bedeutung nichtjüdischer Figuren anerkennen – Frauen im Stammbaum Jesu –, und um die universalen Hoffnungen aus Jesaja. In der spannungsreichen Verbindung beider Traditionslinien lebt die matthäische Gemeinde – und leben wir.

(Susanne Sandherr aus: Magnificat. Das Stundenbuch, 11/2016, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer./ Bild: Friedbert Simon in pfarrbriefservice.de)

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